Die Welt zu Gast am Niederrhein

2014 feiert das Niederrhein Musikfestival sein zehntes Jubiläum. Vom 24. August bis zum 26. Oktober wird das Musikfest klassische Töne und die musikalische Vielfalt verschiedenster Länder und Kontinente an den Niederrhein bringen. Nach dem Erfolg eines französischen Schwerpunkts im letzten Jahr wendet sich das Festival zum Zehnjährigen Brasilien zu. Kurz vor Beginn des Festivals sprach Miquel Cabruja für klassik.com mit Anette Maiburg über das Programm, das Reisen und das Querflötenrepertoire.

 

Frau Maiburg, wie kamen Sie 2005 auf die Idee, Musik an den Niederrhein zu bringen?

Ganz einfach, ich komme vom Niederrhein, und es ist wunderschön hier (lacht). Unsere Organisatorin Susanne Geer und ich waren ursprünglich vom reizvollen Innenhof des Schlosses Dyck ausgegangen. Die hervorragende Akustik und das herrliche Ambiente für Freilichtkonzerte brachten uns schnell auf die Idee, den gesamten Niederrhein mit einzubeziehen. Inzwischen gehören auch die Langen Foundation Hombroich, das Zeughaus in Neuss, die Wickrathberger Kirche in Mönchengladbach sowie der Robert Schumann Saal in Düsseldorf zu unseren Spielorten.

Das Leitmotiv des Festivals lautet ‚Klänge – Farben – Sprache’. Verschiedene Sprachen hört man auch in den Classica-Programmen, die das Festival prägen.

Die Idee von Classica ist es, im Rahmen einer Reihe jedes Jahr ein neues Land mit seinen musikalischen Facetten vorzustellen. Aus der Taufe gehoben wurde das Projekt 2007 mit ‚Classica Cubana’. Das Programm entstand in intensiver Zusammenarbeit mit dem berühmten Tres-Spieler Pancho Amat und dem kubanischen Gitarristen Joaquín Clerch, mit dem ich bis heute zusammenarbeite.

Eine dauerhafte kubanisch-niederrheinische Verbindung?

Solche Verbindungen sind mir sehr wichtig und für unser Festival typisch. Ich verreise nicht gern, bin umso lieber zuhause und hole mir stattdessen die Welt an den Niederrhein. Anstatt mich stundenlang in den Flieger zu setzen, bis ich auf einem anderen Kontinent bin, kommen die Musiker und Künstler einfach zu uns. Wir lernen die unterschiedlichsten Länder kennen, indem wir intensiv mit ihnen zusammenarbeiten, uns austauschen, gemeinsam kochen, einfach Zeit miteinander verbringen.

Wie knüpfen Sie Kontakte zu den Musikern aus aller Welt?

Über Kontakte zu Kollegen, mit denen ich schon viele Jahre musiziere und die wiederum Musiker kennen, die zu einem neuen Projekt passen könnten. Und über die Musikhochschulen. Ich kann gar nicht verstehen, dass das dortige Potenzial nicht stärker genutzt wird! An den Hochschulen sind Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturräumen. Dort kann ich beispielsweise auf kubanische, brasilianische oder spanische Künstler treffen, mit ihnen zusammenspielen, die Musik ihrer Heimat kennenlernen und diese gemeinsam ausprobieren. Meist bringen sie per se ein enormes Wissen über die Musik ihrer Heimat mit und freuen sich, wenn man sich dafür interessiert.

Da spielen Medien und Informationskanäle unserer Zeit bestimmt auch eine Rolle?

Ein wichtiges Hilfsmittel für meine Recherchen ist auch das Internet. Auf verschiedenen Portalen kann ich authentische Aufnahmen aus aller Welt anhören, Vergleiche anstellen und mir Gedanken über Besetzung und weitere Fragen machen. Ich kann Astor Piazzolla oder andere legendäre Interpreten hören und mich davon inspirieren lassen. Das sind wundervolle Chancen. Auch der Kontakt zu Komponisten aller Herren Länder ist über das Netz unkompliziert möglich. Und so eine wunderbare Plattform wie klassik.com ist mit ihren aktuellen Informationen immer wieder inspirierend und hält mich auf dem Laufenden. Alexandra Cravero, die Sängerin des Projekts ‚Classica Francese’, habe ich übrigens auch über das Internet gefunden und konnte sie ganz einfach kontaktieren. Ein absoluter Volltreffer.

Ihre Classica-Reihe erscheint beim Label MDG auch als CD-Serie …

… und ‚Classica Cubana’ wurde 2009 gleich in der Kategorie ‚Klassik ohne Grenzen’ mit einem ECHO ausgezeichnet. In den folgenden Jahren haben wir uns dann weiteren Ländern zugewandt. Zuerst Argentinien, dann Venezuela, danach Spanien und schließlich Frankreich. In diesem Jahr liegt der Fokus auf Brasilien.

Was erwartet das Publikum bei ‚Classica Brasiliana’?

Ein Konzert mit funkelnagelneuem Programm, in dem nichts von der Stange ist. Eine Rundreise durch die ungeheuer reiche Musik Brasiliens. Dazu gehören auch die typischen Instrumente, wie der ursprünglich aus Afrika stammende Berimbau oder die Mandoline, die eine große Rolle in der Choro-Musik spielt. Natürlich wird ein Bossa Nova-Idol wie Antonio Carlos Jobim das Programm prägen, aber nicht mit seinen bekanntesten Stücken. Klassische Komponisten wie Heitor Villa-Lobos und Radamés Gnattali erklingen neben Vertretern des brasilianischen Jazz wie Egberto Gismonti. Außerdem kann sich das Publikum auf wunderbare Musiker freuen, etwa auf die junge Filipa Gojo, die in Köln Jazz-Gesang studiert und die portugiesische Sprache während eines sozialen Jahrs in einem portugiesischen Kinderheim gelernt hat. Oder die Brüder Marcelo und Gabriel Rosário, die Gitarre und Mandoline spielen. Sie stehen für das junge Brasilien und lassen altbekannte Stücke ganz neu klingen. All das kann unser Publikum am 19. September im Zeughaus Neuss erleben.

Eröffnet wird das Festival am 24. August mit einem Konzert, das – wie im letzten Jahr – französisch inspiriert ist.

Unser ‚Classica Francese’-Programm war so erfolgreich und die Nachfrage so groß, dass wir es einfach wiederholen mussten. Im Innenhof von Schloss Dyck werden wir virtuose Klassik von Komponisten wie Jean Françaix mit Chansons von Edith Piaf, Barbara oder Jacques Brel verbinden. Die Sängerin Alexandra Cravero interagiert hervorragend mit unserem klassischen Ensemble aus Querflöte, Harfe, Violine, Bratsche und Cello, das die Chansons begleiten wird. Mit dem Vibraphonisten Mathias Haus tritt dann in der zweiten Hälfte eine interessante Klangfarbe hinzu. Am 14. September werde ich im Programm ‚Lieder und Canciones’ mit der Sängerin Fabiola José und dem Gitarristen Joaquín Clerch Kompositionen von Franz Schubert und Manuel de Falla auf Canciones aus Venezuela und Kuba treffen lassen – auch eine Gelegenheit, Clerch als hervorragenden Arrangeur kennenzulernen.

Womit Sie einen Bogen zu den Classica-Programmen der letzten Jahre schlagen. Ein Blick zurück anlässlich des Jubiläums?

Das kann man so sagen. Und wie in den Jahren zuvor gibt es auch wieder ein reines Klassikprogramm in der Langen Foundation. Unter dem Titel ‚Virtuose Meisterwerke – neu eingekleidet’ gibt es ein für das Festival komplett neu eingerichtetes Programm. Auf der Bühne stehen hervorragende Musiker, die eigens für unser Festival zusammenkommen. Felix Mendelssohn Bartholdys Doppelkonzert für Violine und Klavier sowie Aaron Coplands Klarinettenkonzert spielen wir in spannenden Fassungen für Kammerensemble. Im Original erklingt Maurice Ravels 1905 entstandenes Septett. Dieses Stück entfaltet mit Harfe, Flöte und Klarinette sowie vier Solostreichern eine betörende Klangschönheit, die man im Konzert nur selten hört. Das liegt daran, dass die Besetzung ziemlich groß ist, aber mit diesen hervorragenden Musikern war es förmlich ein Muss.

Das Schlusskonzert am 26. Oktober widmet sich noch einmal der lateinamerikanischen Musik.

Unter dem Titel ‚Classica Latina’ werden wir zum Abschluss die Glanzlichter aller lateinamerikanischen Classica-Projekte zusammenfassen. Als neues Element wird Anna Harms auf der Bühne des Robert-Schumann-Saales in Düsseldorf eine tänzerische Verbindung zwischen den verschiedenen Ländern herstellen. Auf dieses Programm freue ich mich besonders und bin überzeugt, dass es ein ganz großer Höhepunkt unserer Festivalgeschichte wird.

Zum Festivalprogramm gehören auch öffentliche Proben.

Dabei geht es darum, unserem Publikum einen Einblick ins Musikmachen zu geben. Wie entsteht die Musik, die man später im Konzert hören kann, worüber sprechen die Künstler, wie entwickelt sich die Interpretation? Das Ganze findet in einer sehr offenen und lockeren Atmosphäre statt, in der von den Besuchern auch Fragen gestellt werden dürfen. Für mich gehört das dazu. Ich sehe ein Festival immer als Werkstatt. So viele Festivalveranstalter kaufen einfach nur Ensembles ein. Uns geht es darum, neue Musik kennenzulernen und gemeinsam zu erarbeiten.

Sie spielen Querflöte und treffen beim Niederrhein Musikfestival auf Künstler mit einem völlig anderen Hintergrund. Würden Sie den Begriff Crossover verwenden?

Crossover ist ein Wort, mit dem ich wenig anfangen kann. Sehr schnell wird man da in eine Schublade zusammen mit Künstlern wie André Rieu oder David Garrett gesteckt. Die machen aber ganz andere Musik als wir. Für uns ist es wichtig, den klassischen Klang auch in Auseinandersetzung mit anderen Genres beizubehalten. Wir lassen Musik für uns arrangieren, die wir nach Noten spielen. In unseren Konzerten wird aber auch viel improvisiert. Entscheidend ist, dass der klassische Klangsinn für uns bestimmend bleibt.

Das erinnert ein wenig an die Projekte von Christina Pluhar und das Ensemble L’Arpeggiata.

Ja, wir gehen sehr verwandte Wege. Ohne dass ich von ihren Projekten wusste, habe ich im Grunde ein ganz ähnliches Konzept entwickelt. Ich beobachte ihre Arbeit mit großer Bewunderung. Der entscheidende Unterschied ist, dass sie aus der Alten Musik kommt und wir auf modernen Instrumenten spielen.

Geht es Ihnen als Flötistin mit Ihrem Festival auch darum, Ihr Repertoire zu erweitern?

In den letzten Jahren ist das Repertoire für Querflöte immer kleiner geworden. Die Barock-Komponisten, die zu den Eckpfeilern unserer Literatur gehörten, werden zunehmend nur noch auf der Traversflöte gespielt. Entsprechend bieten mir unsere ‚Classica’-Projekte wunderbare Gelegenheiten, neue Stile kennenzulernen, neue Musik geschrieben zu bekommen und mich allgemein weiterzuentwickeln.

Was machen Sie, wenn Sie nicht für das Niederrhein Musikfestival tätig sind?

Ich musiziere mit verschiedenen Kammermusikensembles auf Festivals wie dem Rheingau Festival, den Weilburger Schlosskonzerten, den Moselfestspielen, den poetischen Liedertagen Melos Logos in Weimar und beim Mozart Festival in Chemnitz.

Sie haben auch im Orchester gespielt …

… ich fing als Flötistin beim Philharmonischen Orchester Hagen an, realisierte mit den Bamberger Symphonikern Tourneen und Aufnahmeprojekte, spielte im WDR Sinfonieorchester Köln und dem Orchester der Beethovenhalle Bonn. Außerdem unterrichtete ich an den Musikhochschulen in Köln und Lübeck.

Das klingt alles ziemlich klassisch.

Ist es auch. Umso wichtiger war es für mich, auf die Musiker des Trio Voyage zu treffen, die in der ungewöhnlichen Besetzung von Flöte, Gitarre und Bass Musik vom Barock bis hin zum Jazz gestalteten. Sie waren für mich der Auslöser, um mich mit dem Thema Improvisation auseinanderzusetzen und neue Klangmöglichkeiten auf meinem Instrument zu suchen. Als ich dann auf Joaquín Clerch traf, kamen wir schnell darauf, auch die kubanische Folklore mit einzubeziehen – der Ursprung der Idee, die heute das Niederrhein Musikfestival und die ‚Classica’-Reihe prägt.

Haben Sie schon Pläne für das kommende Jahr?

Wir möchten die Verbindung zwischen Musik und Malerei stärker in den Fokus stellen, eine Kooperation mit einem ausgezeichneten Graffitikünstler aus Düsseldorf ist geplant – es wird auf jeden Fall spannend!

Das Gespräch führte Miquel Cabruja.
klassik.com (08/2014)
Abbildung des Interviews mit freundlicher Genehmigung von Klassik.com

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